Wenn Gott verschwindet, verschwindet der Mensch by Bauerdick Rolf

Wenn Gott verschwindet, verschwindet der Mensch by Bauerdick Rolf

Autor:Bauerdick, Rolf [Bauerdick, Rolf]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-DVA Sachb./Belle.
veröffentlicht: 2016-09-05T15:27:33+00:00


VIII

Erinnern, Vergessen, Bekennen

»Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern, und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.«

Gabriel García Márquez

Für den polnischen Autor Andrzej Stasiuk gewinnen Ereignisse erst an Bedeutung, wenn sie in der Vergangenheit verschwinden. Die Zukunft ist »ein großes Vakuum«, schreibt Stasiuk in seinen Reiseskizzen Fado. »Sie enthält nichts und kann höchstens Liebhaber von Science-Fiction-Literatur, Marxisten, Kapitalisten oder alte Jungfern erregen. Nur das Vergangene existiert, denn es besitzt eine Form, ist greifbar, berührbar und rettet uns in gewisser Weise vor dem Wahnsinn, vor der mentalen Zerstörung.« Ich teile Stasiuks Wertschätzung der Vergangenheit. Zwar ist der vorausschauende Blick aus alltagspraktischen Gründen mitunter nötig, auf Dauer aber ermüdend und auszehrend. Die Forderung, man müsse nach vorne schauen, wird immer dann strapaziert, wenn die Gegenwart nicht hält, was man sich in der Vergangenheit von ihr versprochen hat. Auch ich blicke gern zurück. Damit Bewahrenswertes sich nicht verflüchtigt, das Erlebte nicht im Konturlosen zerfließt und um mich nicht im Spekulativen zu verlieren.

Mich sprechen Dinge an, die sich mehr oder weniger langsam ändern. Manchmal verstecke ich kleine Gegenstände in der Landschaft. Unnützes Zeug. Eine Schraube aus Eisen. Oder eine hölzerne Wäscheklammer, Obstschalen, seltener eine ausländische Geldmünze. Gerade überlege ich einen guten Ort für ein kleines, aus schwarzen Fäden geflochtenes Kruzifix. Ein rumänischer Exorzist (siehe Kapitel IX) hat es mir geschenkt, und ich denke, ich sollte mich allmählich davon trennen. Es bedarf nur noch eines adäquaten Ortes, wo es nicht schaden, möglicherweise sogar nutzen kann. Ich deponiere die Dinge gezielt. Im Wald, an Spazierwegen, in Mauerritzen, zwischen Felsspalten. So lässt sich kontinuierlich ihre Transformation beobachten. Die Schale einer Navelorange zum Beispiel, abgelegt auf dem Baumstumpf einer Fichte, beginnt nach drei Tagen zu schrumpfen und hat nach sechs Wochen ihre Farbe und Leuchtkraft verloren. Nach einem halben Jahr ist sie, ununterscheidbar für das Auge, mit dem Humus des Waldbodens eins geworden. Anders der schwarze Bauer eines Schachspiels. Ich fand die verwaiste Plastikfigur im Garten des Ferienhäuschens, in dem ich meine Bücher schreibe. Seit Jahren steckt sie irgendwo im sauerländischen Ebbegebirge im Astloch einer Buche. Ungezählte Spaziergänger sind an ihr vorbeigelaufen. Aber die Figur ist schwer zu erkennen. Man sieht den Bauern nur, wenn man weiß, dass er da ist. Kann sein, dass er in einigen Jahren vollends von der Baumrinde umwachsen ist und unsichtbar wird. Vielleicht aber sendet er energetische Signale aus, so wie mein indischer Blechbuddha. Insgeheim wünsche ich mir, der Schachsoldat werde irgendwann von einem aufmerksamen Menschen entdeckt und entwendet, um einer höheren Bestimmung zugeführt zu werden.

Auch wenn die deponierten Gegenstände verfallen, wenn sie rosten und bleichen, so verschwinden sie im Prozess ihrer Auslösung nie ganz. Etwas bleibt von ihrer Substanz, widersetzt sich dem Temporären und bestärkt in mir die Idee der Dauer. Viele halten die Dauer für etwas Antiquiertes. Sie glauben, ihr wohne die Starre, der Stillstand und der Tod inne, nur der Wandel sei der Indikator des Lebendigen. Es ist umgekehrt. Der stete Wechsel zeigt an, dass wieder etwas gestorben ist, für etwas, das wiederum in Zukunft sterben wird.



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